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                                                                                                                                 Rainer Nägele
 
PFABREGG
So kam sie mir zu Ohren, so blieb sie mir im Ohr: nicht 'die Fabrik', sondern Pfabregg. Wahrscheinlich vorher noch, bevor sie als Wort da war, lag schon ihr Rauschen im Ohr, ein gleichmäßiges, leise dröhnendes, über den Tag bis in die Nacht sich hinziehendes Geräusch. Aber dieses Vorher ist ganz abstrakt, konkret ist es als das Rauschen, aus dem das Wort kam, aus dem seither und für immer das Rauschen kam. Es kam von den Webstühlen. In meiner Erinnerung ist es schon durchbrochen von den wenigen kurzen Momenten, wo eine plötzlich geöffnete Tür in den Websaal, das Rauschen in eine Sturzflut ohrenbetäubenden Lärms verwandelte. Es war dann dem Kind, als hätte man kurz das Tor zu einer höllischen Welt geöffnet und schnell wieder geschlossen. Und diese Welt konnte dann in unerwar­teter Weise, ganz woanders wieder aufheulen: beim ersten Lesen jener kurzen Szene im Faust, wo Faust und Mephisto an der Richt­stätte vorbeireiten, öffnete sich dröhnend diese Tür bei Fausts Frage: "Was weben die da um den Rabenstein". Und Mephistos Antowrt, "Weiß nicht, was sie kochen und schaffen", faßte die ganze Familienwelt des Kindes zusammen mit der Mama, die kocht und dem Papa der in der Fabrik schafft.
            Denn in die Fabrik ging man zum Schaffen. Ich bin nie "in die Fabrik", d.h. i Pfabregg, gegangen, obwohl ich öfter ins Fabrikge­bäude gegangen bin, eine zeitlang regelmäßig Samstags zum Baden. Das war eines der Privilegien der Fabriggler, die keine Badezimmer zu Hause hatten, daß sie und ihre Familien in die Fabrik zum Baden gehen konnten.
            I Pfabregg aber bin ich nicht gegangen. Wie kann ich also über Pfabregg schreiben? Vielleicht gerade deshalb. Von denen, die in die Fabrik gegangen sind, mein Vater vor allem, meine Mutter für eine kurze Zeit und, wie es mir als Kind schien, fast die ganze Welt um mich herum, habe ich keine Erzählungen. Meine Mutter habe ich noch kürzlich gefragt, wie war das denn? Erzähl mir. Aber sie konnte mir nichts erzählen. Mein Vater hat manchmal, wenn er nach Hause kam, dies und jenes erwähnt, meistens Ärger, manchmal was ein Mitarbeiter ihm erzählt hatte. Vielleicht kann man, wenn man in die Fabrik gegangen ist, keine Geschichten aus der Fabrik erzählen. Vielleicht gab es da keine Geschichten. Man ging dahin eben zum Schaffen. Und das war offenbar etwas anderes als jenes Schaffen, daß ich dann später in literarischen Texten des 18. Jahrhunderts las, wo es mit großer Emphase und heimlichem Schauer erfüllt geradezu als Inbegriff des schöpferischen Tuns und Schreibens und Erzählens galt.
            Geheimnisvoll blieb mir lange Zeit das Wort "schaffen". Man ging in die Fabrik "schaffen". Lange - und sogar jetzt noch kommt dieses Bild mir zuerst - hatte ich die Vorstellung, die Leute, die in der Fabrik "schaffen", gehen zu einer bestimmten Zeit dahin und stehen dann da in einem großen Raum und warten bis die Zeit um ist. Die Vorstellung kam mir vielleicht, weil manchmal, wenn ich tags mit meiner Mutter oder auch allein auf dem Fabregga- und Kappeli­wegli an der Fabrik vorbei ging, ich dort oben am Fenster die Silhouette meines Vaters sehen konnte, wie er, mit dem Rücken zum Fenster gewandt, vor einem mit Tuch bespannten Apparat stand. Aber die Vorstellungs­spuren sind vielleicht noch älter, denn merkwürdi­gerweise verbinden sie sich besonders stark mit der Vorstellung meiner Mutter in einem anderen, viel lauteren Fabriksaal stehend. Aber die Vorstellung des in der Fabrik Schaffens als einem wartenden Stehen wurde weiter bestärkt von meinem Vater, der manchmal klagte, wie die Füße ihm weh taten vom langen Stehen und besonders Mittags nach dem Essen noch schnell die Füße strecken wollte auf dem Sofa. Schaffen, so schien mir, war ein besonderes Stehen, ein Aus-Stehen der Zeit.
            Denkbar wäre es ja gewesen, daß ich in die Fabrik gegangen wäre, eine Zeit lang zumindest sogar undenkbar, nicht in die Fabrik zu gehen. Denn das tat man einfach, wenn man 'aus der Schule' kam, so schien es mir. Zwar gab es auch andere Träume, auch den vom Lokomotivführer, wenn ich etwa in Sevelen auf dem Weg zum Roßmetz­ger mit meinem Fahrrad eine halbe Stunde vor der offenen Bahn­schranke stand, ungeduldig auf ihr Schließen wartend, um wenigstens einen Zug vorbeifahren zu sehen. Das war aber vielleicht auch schon später, als auch schon andere Träume ihr Recht verlangten. Die Zeiten der Erinnerung sind hier ineinander verschränkt.
            Mit der Zeit selbst aber hat die Fabrik viel zu tun, mit der Zeit und mit dem Raum, die sie von Anfang an auf ihre Art bestimmt und geordnet hat. Als eine Ordnung von Zeit und Raum ist die Fabrik, in die ich nie gegangen bin, in mich eingegangen.
            Bevor noch das Internat die Stunden des Tages von Morgen bis Abend und die Tage der Woche mit jenem Rhythmus versah, dessen Pulsieren bis heute noch auf mein Leben in der Zeit wirkt, auch wenn die Konturen verwischt und verschoben sind, gab es schon die von der Fabrik geprägte Zeit. Und vielleicht hat diese Prägung die spätere vorgebahnt.
            So wie die Fabrik, dies langgezogene gelblich weiße Gebäude mit dem hochragenden Schornstein, wenn man etwa vom Wangerberg oben auf Triesen hinunter sieht, oder vom Rheindamm gegen das Dorf hinauf, zusammen mit der greller weißen Kirche und ihrem Turm das Dorfbild prägen, prägten Kirche und Fabrik, Pfabregg und dr Pfarr, den Rhythmus von Zeit und Leben. In dem großen T, als das das alte Dorf sich dem Blick von oben darbot - die Häuserzeile der Landstra­ße entlang als Querbalken, die Häuserzeile von Dorfstraße und Gässle zum Oberdorf hinauf als Vertikalstrich - unterstrich die Fabrik den Querbalken, während die Kirche die Vertikale akzentuier­te: Topographie, Tempus und Tempo eines Dorfes namens Triesen, vor allem jenes nicht unbeträchtli­chen Teiles des Dorfes, den die Fabriggler ausmachten.
            Für mich begannen die Zeitmarkierungen der Fabrik früh in der Kindheit, als eine Zeit lang nicht nur mein Vater, sondern auch meine Mutter in die Fabrik ging. Wie lange das genau war, weiß meine Mutter nicht mehr. Mir scheint, es muß etwa zwischen meinem zweiten und vierten Lebensjahr gewesen sein. Jedenfalls kommen meine ältesten Erinnerungen aus jener Zeit und sie sind zeitlich markiert durch den langgezogenen Rhythmus der Wochentage, die ich am Wangerberg bei meinen Großeltern verbrachte und den kurzen Wochenenden in Triesen. Genauer: es sind nicht so sehr diese Zeitinervalle, die der Erinnerung sich bieten, sondern Schwellenmo­mente des Übergangs, eines Hinüberreitens auf den Schultern meines Vaters, der Freitag abend nach der Fabrik mich am Wangerberg abholte und über "die Büchel" oder "die Litzenen" geradewegs nach Triesen hinuntertrug und Sonntag abend wieder hinauf. Vom Hinauf­tragen habe ich freilich alle Erinnerungen ausgelöscht. Es bleiben nur Momente des Hinuntertragens und davon wiederum am stärksten jene topographische Schwelle, wo man aus dem Waldstreifen unter dem Wangerberg hervortretend das Dorf mit Kirche und Fabrik, deren Rauschen jetzt aufgehört hatte, voll Feiertags­versprechen vor sich liegen sah. Jene Schwelle erhielt dann zusätzlich noch eine Duft- und Farbmarke, die sich mir tief eingeprägt hat: im Sommer gab es da am Waldrand rot-violett leuchtend die "Hasenöhrchen" (Hasanör­li), deren botanischen Namen als Alpenveilchen mir erst vor wenigen Jahren ein botanisch beschlagener Freund offenbarte.
            Freud erzählt die Geschichte von dem kleinen Kind, das mit seiner Fadenspule "fort-da" spielt, indem es die an einer Schnur befestigte Spule über den Bettrand werfend zum Verschwinden bringt und sie dann wieder mit freudigem Da! zu sich zieht. Für mich war es die Fabrik, die das Fort-Da-Spiel mit mir spielte. Aber auch die Fadenspulen lieferte sie: ganze Haufen von zilinderförmigen Kartonröhren, die mein Vater nach Hause brachte für mich zum Spielen. Wasserleitungen, Fernrohre, Telefon entstanden aus diesen Röhren: spielerische Produktionen aus dem Abfall einer Produktion, die keinen Raum für Spiel ließ. Von diesen Spulen bis zu den Servietten, die meine Mutter aus den Tuchabfällen herstellte und mit meinen Initialen versehen mir ins Internat mitgab, durchwirkte die Fabrik mein Leben mit den Emblemen ihres Abfalls, merkwürdig verknüpft mit Bezügen von Ferne und Nähe.
            In die Fabrik ging, wer nicht vom Ort wegkam. Mein Vater hatte es versucht. Er wollte eine Kochlehre in der Westschweiz machen. Als aber nach wenigen Wochen der Krieg begann, war er als Liechten­steiner in der Schweiz ohne richtige Aufenthaltsgenehmigung Ausländer genug, um wieder nach Hause zurückkehren zu müssen. Nach Hause: das bedeutete in die Fabrik. Dort blieb er dann bis zu seiner Pensionierung, einer der letzten Liechtensteiner, die da noch in der Fabrik arbeiteten.
            Mich aber prägte sie von Anfang an mit jenem Fort-Da, das dann zum Rhythmus meines Lebens geworden ist. In eigentümlicher Weise bereitete sie so, ohne Absicht, meine Loslösung aus allem, was die Kindheit bannte, vor, wie übrigens auch ihr architektonisches Geschwister, die Kirche, und ihr phonetisches Echo, dr Pfarr, ohne die ich als Fabrigglerbub kaum zum Studieren gekommen wäre. Ein Lehrer, der dann später eine Geschichte von Triesen schrieb, wollte noch kurz vor meinem Übertritt ins Gymnasium meinem Vater abraten, einen Fabrigglersohn zum Studieren zu schicken.
            Als meine Mutter dann nicht mehr in die Fabrik ging und ich nun auch wochentags in Triesen wohnte, als mit dem Kindergarten auch für mich ein Zeittakt von außen zu schlagen begann, blieb doch meiner Erinnerung stärker verhaftet der von der Fabrik lautlos geschlagene Zeittakt, der dem täglichen Fort-Da meines Vaters seinen, wie es schien, ewigen, von der Natur bestimmten Rhythmus aufprägte. Lautlos war dieser Takt im immergleichen Rauschen der Fabrik, synkopiert von dem, was die Kirchenuhr laut und hörbar schlug. Die Synkopierung markierte eine Zeitverschiebung zwischen zwei gleichzeitigen Zeiten an, eine Verschiebung in der Parallele von Kirche und Fabrik, von alter kirchlicher, dem bäuerlichen Tageslauf sich anschmiegenden Zeit, und der neuen industriellen Zeit. Mir hat die Synkope besonders Mittags sich eingeprägt. Um elf Uhr schlug nicht nur die Kirchenuhr ihre elf Schläge, sondern es läutete auch 'zu Mittag' (daß das das Angelus-Läuten war, lernte ich erst viel später). Es war das Mittagsläuten früher für die Leute auf dem Feld und es blieb das Mittagsläuten für mich seit dem Kindergarten wie für alle Schüler. In der Schule galt noch die alte Zeit, nicht die Zeit der Fabriggler. Mir schien das Mittagsläuten nicht nur das Ende des Schulvormit­tags, sondern gleichzeitig das Vorspiel auf eine andere, 'wirklichere' Zeit, der mein Vater angehörte, überhaupt die Großen, die in die Fabrik gingen. Es war tatsächlich so etwas wie eine Verkündigung, deren feierlicher Charakter mir sich in den Küchendüften ankündigten, wenn um diese Zeit meine Mutter das Mittagessen bereit machte.
            Um viertel vor zwölf war es dann so weit. Die Zeit der Fabrik schien eine Zeit der Viertelstunden zu sein: um viertel vor sieben morgens begann sie für meinen Vater, um viertel vor zwölf kam er nach Hause. Nur der Wiederbeginn mittags war zur vollen Stunde um ein Uhr, abends war 'Feierabend' um viertel vor sechs. Es war als wollten diese Viertelstunden deutlich machen, daß es hier nicht mehr um Stunden, sondern um Minuten ging, daß Zeit hier in der Tat Geld war, das sich zwar als "Stundenlohn" bemaß, dessen kärgliche Summe aber nach Minuten berechnet war.
            Viertel vor zwölf aber ist mir als magischer Augenblick in Erinnerung. Es war ein Augenblick reiner Erwartung. Sogar die Katze hatte Teil daran, sie vielleicht besonders. Jedenfalls schien auch sie von dieser Fabriggler Viertelstunde geprägt: fast jeden Tag wanderte sie, wenn sie draußen war, kurz vorher auf der Krone der Gartenmauer bis ans unterste Ende und wartete dort an der Ecke, wo das Fabreggawegli ins Gässle mündete, bis mein Vater um die Ecke bog und sie auf seine Schulter springen konnte. Wir, meine Mutter und ich, manchmal auch meine Großmutter vom Wangerberg, wenn sie auf Besuch war, standen in der Küche, deckten den Tisch und schauten immer wieder aus dem Küchenfenster das Gässle hinunter.
            Und dann kamen sie, die Fabriggler, im Gänsemarsch hinterein­ander, weil kaum Platz für zwei nebeneinander war auf dem schmalen Fabregga­wegli. An der Ecke zum Gässle bogen die meisten dann nach rechts zum "Kosthaus" ab. Dieses große gelbe Haus an der Ecke von Gässle und Landstraße, das jetzt noch steht, war das Zuhause vieler Fabriggler. Es gehörte der Fabrik, die darin ihren Arbeitern relativ günstige Wohnungen anbot. Denn eigene Häuser, wenn sie sie nicht schon 'von Haus aus', d.h. von den Eltern her hatten, konnten Fabriggler sich kaum leisten. Mein Vater war im Kosthaus aufgewach­sen, sein Vater dort gestorben (es ist der früheste Tod, an den ich mich erinnere, nur an seinen Tod, nicht an ihn, ich war kaum drei Jahre alt), und auch seine Mutter, meine Großmama im Unterschied zur Nana am Wangerberg, wohnte dort bis zu ihrem Tod. Und auch meine Eltern wohnten zuerst dort und dort war ich geboren. D.h. eigentlich geboren war ich etwa hundert Meter südlich davon im Armenhaus, das zwar offiziell Bürgerheim hieß, aber den Triesnern damals (und meinem Ohr noch heute) eher als Armenhaus vertraut war. Kosthaus und Armenhaus aber waren nicht nur örtliche Nachbarn, sondern sie gehörten in meiner Vorstellung zusammen. Geboren im Armenhaus habe ich meine ersten Lebensmonate im Kosthaus verbracht. Davon freilich habe ich keine Erinnerung, nur die Erzählungen, genauer, die gelegentlichen Erwähnungen meiner Eltern. Nicht einmal meine Träume, die sonst durchgehend von der Topographie meiner Kindheit gezeichnet sind, weisen Spuren davon auf. Meine Eltern sind dann nämlich bald nach meiner Geburt aus dem Kosthaus ausgezogen. Mit etwas Hilfe vom Großvater aus Triesenberg konnten sie ein altes Haus im Gässle, kaum hundert Meter vom Kosthaus entfernt, kaufen. Das Kosthaus blieb so Teil meiner Kindheit: seine gelbe Fassade gehört zum Bild dieser Kindheit wie der Alvier, der hinter dem Kosthaus die westliche Bergkette dominiert. Es war aber betontes Außen im Gegensatz zur Haus- und Kind- und Trauminnenwelt des Hauses im Gässle. Es blieb außen, es blieb draußen, auch wenn ich gelegentlich, aber eigentlich war es selten, meine Großmama dort noch besucht habe. Es blieb draußen, etwas drohend, wie der Tod meines Großvaters dort, es blieb draußen, als hätte ich es mit großer Anstrengung hinausgesetzt.
            Aber mehr als meine Anstrengung, wenn es eine solche in der Tat hätte geben sollen, war es wohl dieses Bild: wie um viertel vor zwölf die Gestalt meines Vaters sich aus der Reihe der Fabriggler ablöste und statt nach rechts, nach links abbog und das Gässle heraufkam. Dieses Abbiegen, dieses sich Ablösen der Gestalt meines Vaters wurde zu einer Figur meines Lebens. Die Katze, die dann mit leichtem Sprung von der Gartenmauer auf seine Schulter übersetzte, vervollständigte die Figur zum Bild aller möglichen Freiheitsver­sprechen.
            Es war freilich immer nur ein Abbiegen auf Zeit: die kurze Zeit des Mittags bis fünf vor eins, die Zeit des "Feierabends", die etwas längere fürs Wochenende, und dann einmal im Jahr für die zweiwöchigen, spät erst dreiwöchigen, Ferien. Aber auch diese waren, nicht zuletzt durch das spöttische Wort eines Nachbarn, dessen Weinberg an unser Haus und unsern Garten grenzte, ominös von der Fabrik beschattet, ja bewölkt. "Haben die Fabriggler bald Ferien?" rief er gelegentlich über den Zaun, "dann müssen wir uns für die nächsten Wochen auf Regen einstellen."
            So waren die Fabriggler auf mysteriöse Weise also auch noch für das schlechte Wetter verantwortlich. Oder sie gehörten zu jener Klasse, die, wenn sie überhaupt Ferien verdient, dann höchstens mit Regen. Ich ahnte erst später, wie sehr der nachbarliche Spott, einem verbreiteten Bild der Fabriggler entsprach. Sie standen weit unten in der Dorfhierarchie. Manche betrieben wie mein Vater nebenbei noch eine kleine Landwirtschaft. Bei uns bestand diese hauptsächlich aus ein paar Schafen, Hühnern, einem Schwein und Kaninchen; dazu gehörten zwei oder drei gepachtete Feldstücke im Sand für Kartoffeln, Mais und Bohnen und einige Wiesenstücke über dem Dorf zum Heuen. Wenn dann die Zeit zum Heuen kam, schulterte mein Vater morgens in aller Frühe die Sense und ging zu den Litzenen hinauf zum Mähen, um dann rechtzeitig um viertel vor sieben wieder in der Fabrik zu sein. So löste das Schaffen in der Fabrik sich ab mit dem Krampfen, das die Arbeit in der Kleinland­wirtschaft an 'Feierabenden' und Samstagen bezeichnete. In diese zwei Wörter teilte das Wort Arbeit sich auf.
            Wörter, Bilder, mit der Fabrik verknüpft, die in der Zeit, aus der Zeit herausstehen. Darunter das Bild zweier alter Frauen (so weit ich zurückdenke, immer erscheinen sie alt vor meiner Erinne­rung), immer in schwarz, den Rucksack auf dem Rücken, die jeden Abend an unserm Haus vorbei nach Triesenberg, nein nach Lavadina hinauf stapften, von wo sie früh morgens in die Fabrik herunterge­kommen waren. Wörter und Bilder, die dem Erzählen widerstehen, das sie allzu gerne in verklärende Nostalgie verwandeln möchte. Gruusig schöö - aber es war nicht schön und auch nicht heimelig.
            Schön waren die Momente, wenn die Fabrik still geworden war, die späten Samstagnachmit­tage, wenn das Sonntageinläuten um fünf Uhr tatsächlich so etwas wie Feierabend versprach, die Sonntagvor­mittage, wenn mein Vater ins Kochen versunken, einer Arbeit nachträumte, eine Arbeit tat, die Lust machte. Ein Jahr vor seiner Pensionierung wurde die Fabrik dann endgültig still. Er hatte Glück, daß er nahe genug am Pensionsalter war, um nicht zuviel von der kleinen Pension zu verlieren, Glück auch, daß er ein Jahr früher aufhören konnte. Es war für ihn ein Jahr geschenktes Leben. Der Fabrik hat er, so weit ich weiß, nie auch nur eine Minute nachgetrauert.
            Im Herbst 1992, neun Monate nach dem Tod meines Vaters, war ich noch einmal in der Fabrik. Längst ging man nicht mehr dorthin 'schaffen'. Dafür wurde eine andere Art von Schaffen vorgestellt, in der Bedeutung, die das Wort im 18. Jahrhundert hatte, und was man auch heute in Liechtensteiner Zeitungen gelegentlich als Kunstschaffen bezeichnet findet. Ich stand vor den schwarz-weißen Kinderfiguren, die da ausgestellt waren, und dachte an die schwarze Silhouette meines Vaters vor dem weißen Tuch, wie ich sie manchmal von draußen am Fenster der Fabrik gesehen hatte.
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